Vom Lande kommend zum ersten Mal eine größere Stadt zu betreten, kann ein durch und durch schockierendes Erlebnis sein. Die Anzahl der Eindrücke sprengt die gewohnten Erwartungen, die Wahrnehmung wird schnell überfordert. Ein ganz und gar nicht unerhörtes Getöse erschwert die Orientierung. Schon nach kurzer Zeit setzt eine Müdigkeit ein. Aus einer Stadt kommend, mit allen notwendigen Wahrnehmungsfiltern ausgestattet, fällt es manchmal schwer, Erlebnisse solcher Art nachzuvollziehen. Sie werden eher gegenwärtig, wenn sich aufs Land bewegt wird und eine ohrenbetäubende Stille für Überraschung sorgen kann.
Wo bin ich? Wo ist das Hier und was ist Dort? Wir können uns besser orientieren, wenn wir uns auskennen, uns ins Verhältnis setzen können, einen Standpunkt einnehmen, der uns vom Hier zum Dort gelangen lässt, der uns einen Weg im Unübersichtlichen bahnt und uns Klarheit verschaffen kann, indem wir einer Fährte folgen können, was über die Nutzung einer Karte weit hinausgeht. Die Fährte, der hier gefolgt werden soll, führt weniger zu einem Ort als einem geografischen Ziel, das erreicht werden kann, sondern eher zu einer Gegend, einem Raum vieler Orte, die zugegen sein können, einem Hier und Dort in seinen zahlreichen Facetten. Was immer eine Stadt auch sein mag oder will, sie ist ein Habitat wunderlicher Lebewesen, die putzig und monströs, erstaunlich und haarsträubend, liebevoll und zornig und in Köln zum Glück auch immer wieder gelassen und bekloppt sind. Die Städte, Dörfer oder „Stadtdörfer“, in denen wir leben, sind durch unterschiedliche Belebtheit gekennzeichnet. Leben wir länger in diesen Quartieren, kennen wir in der Regel die Stadt, kennen unser Viertel, den Weg ins Zentrum und im Zentrum natürlich die Orte, die wir aus unterschiedlichen Gründen besuchen, wir finden unser je eigenes Hier. Die Stadt ist in ständiger Bewegung. Autos, Busse, Straßenbahnen, Radfahrer*innen, Fußgänger*innen, Bürger*innen, alles Besucher der Stadt, folgen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in unterschiedlicher Lautstärke, in unterschiedlichen Richtungen ihren Interessen.
Ich nenne es Gewimmel.
Als vom Lande Kommender habe ich 25 Jahre im Zentrum vom Köln gelebt. Ich hatte das mehr oder weniger zufällige Vergnügen, meine studentische Existenz als Taxifahrer zu bestreiten, so dass ich sieben Jahre lang nachts an den Wochenenden die Stadt beobachten konnte. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es noch keine Navigationsgeräte, es musste sich detailliert mit der Stadt und ihren Straßen vertraut gemacht werden. Es brauchte ca. zwei Jahre bis ich regelmäßig auf den Stadtplan verzichten konnte. Es war eine unerwartete und befriedigende Erfahrung, an jedem Ort der Stadt ein vertrautes Hier zu haben, das die scheinbar große und unübersichtliche Stadt zu einem Zuhause schrumpfen ließ. Nicht zuletzt diese Erfahrung brachte mich dreißig Jahre später auf die Idee, die Stadt als Habitat zu beleuchten, indem ich Straßen und Plätze der Stadt fotografierte.
Wir orientieren uns an Unterschieden. Die durch das Gewimmel hervorgebrachten Unterschiede verleiten unseren Blick. Aus der Perspektive eines Jeden, zumindest in größeren Städten, sind die allermeisten Besucher Unbekannte und verursachen ein fluktuierendes, verdeckendes Rauschen. Das Habitat wird durch dieses eigentümliche Wimmeln verstellt, es wird zum Hintergrund. Es tritt deutlicher in Erscheinung, wenn wir nicht vom tosenden Rauschen abgelenkt werden. Es bietet sich dann leichter als es selbst dar:
Die leere Stadt.
Die Spuren des Wimmelns sind allerdings im Habitat vergegenständlicht, es wurde durch das Wimmeln geformt und hervorgebracht. Das Wimmeln gerinnt hier zu einer festeren Form, die sich nur noch wie Lava bewegt. In dieser stillgelegten Form lässt sich das Wimmeln in Ruhe rekonstruieren:
Eine „Archäologie des Wimmelns“.
Dieser Bildband ist eine Art Stadtführung oder Stadtbegehung. Hierbei bin ich allerdings weniger von den zahlreichen historischen Gebäuden und den vielen schönen katholischen Kirchen ausgegangen, sondern habe mich auf Straßen und Plätze konzentriert.
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