Die Betrachtung eines Dorfes mit nur drei Straßen ist sicherlich interessant. Es könnte allerdings als ein wenig unergiebig für einen Bildband über Straßen erscheinen. Eine große Stadt mit mehr als 5.000 Straßen wiederum kann zu ergiebig werden. Durch die Konzentration auf das Zentrum der Stadt kann nicht nur geografische, sondern auch historische Übersichtlichkeit eintreten: Der Kern, aus dem das Habitat entstanden ist. Und im Übrigen war es ohnehin so, dass alteingesessene Taxifahrgäste, z. B. aus Ehrenfeld oder Nippes, die in die Innenstadt wollten, sagten: „Wir fahren nach Köln“.
Es können nicht von allen Straßen und Plätzen, aus allen möglichen Richtungen Bilder gemacht werden, auch wenn Google uns das glauben machen will. Eine Auswahl, die im günstigen Fall einen Eindruck des Ganzen vermittelt, muss festlegt werden. Es gibt verschiedene Arten, eine Auswahl zu treffen. Eine von ihnen - und nicht die schlechteste - setzt voraus, erst einmal alle Möglichkeiten zu kennen. Ein recht aufwändiges Verfahren, wenn diese Möglichkeiten vorab erst kennengelernt werden müssten. Ich kannte glücklicherweise bereits alle „möglichen“ Straßen, auch wenn sie sich in den letzten Jahren ein wenig verändert hatten. Das Bild auf dem Umschlag stellt die Fährte dar, der ich zur Auswahl gefolgt bin, und wird später näher beschrieben.
Neben der Auswahl der Straßen musste natürlich in der Straße der Ort und die Blickrichtung, das Motiv der Fotografie bestimmt werden. Einerseits ist die Anzahl der Möglichkeiten hierfür anders als bei der Anzahl der Straßen, die einfach nur ein paar Viele sind, rein theoretisch unendlich. Andererseits kennt eine Straße oft ja nur zwei Richtungen, was die Angelegenheit doch stark vereinfachen sollte - wenn es nicht so zahlreiche Orte auf der Straße gäbe. Nun war es allerdings so, dass ich mit diesen Straßen ungefähr fünftausend Stunden verbracht hatte. Von daher wusste ich, dass die Straßen mit mir „reden“, mir die angemessene Perspektive mitteilen würden, wenn ich mich auf sie einließe, was nichts mit Esoterik, sondern eher mit Phänomenologie zu tun hat. Ein Bild entsteht, ganz ähnlich wie mein ‚Gespräch‘ mit der Straße, in der Wirkung, die es entfaltet, wenn ich es betrachte. Indem ich diesem stillen Dialog Muße einräume, kann sich die Wirkung entwickeln, das Bild wird wirklich, die Perspektive real.
Bilder zu einem Thema, eine Serie von unterschiedlichen Aufnahmen, erzeugen einen gemeinsamen Gegenstand, in diesem Falle das „Habitat Köln“. Diese Vorgehensweise führt natürlich immer zu einer eigenen Perspektive, meiner eigenen Sicht, die sich von anderen unterscheiden wird. Die Perspektive eines Anderen kann jedoch in der Lage sein‚ meine eigene Sicht aufzubrechen und etwas neu oder anders erscheinen zu lassen.
Die leere Stadt zu fotografieren funktioniert in Köln mit seinem Gewimmel in annehmbarer Zeit nur nachts. Um erste Erfahrungen mit den Herausforderungen, nachts eine Stadt zu fotografieren, zu sammeln, bot es sich an, die Stadt, in der ich heute wohne, beispielhaft zu erkunden. Die Innenstadt von Siegburg ist im Vergleich zu Köln recht klein und ungefähr 1.000 Jahre jünger. Das Siegburger Zentrum schmiegt sich an den Michaelsberg, auf welchem seit Jahrhunderten ein Kloster thront. Angenehmerweise gruppiert sich Siegburg um einen zentralen Marktplatz und ist nicht entlang einer zentralen Straße aufgefädelt. Es ging bei dieser Vorstudie nicht darum herauszufinden, wie man nachts fotografiert, sondern darum, was beim Fotografieren einer nächtlichen Stadt das Spezifische ist und wie es sich auf die Zeitplanung des Vorhabens auswirken wird.
Oft ist es so, dass erst, wenn man etwas macht, Details klar werden, die man sich im Nachhinein auch hätte vorher denken können.
Wie leicht bemerkt werden wird, sind Nachtaufnahmen eher dunkel und strengen die Augen ein wenig an. Es erschien mir opportun, als Ausgleich für ein wenig Erleichterung zu sorgen. Ich hatte die Gelegenheit, Anfang März des betreffenden Jahres Städte in Südfrankreich zu fotografieren, die sich, bar aller Touristen, mittags als leere Habitate präsentierten und die ich so als Vergleich heranziehen konnte.
Ich möchte nun noch kurz einige wenige technische Aspekte illustrieren, die die Gestaltungsmöglichkeiten von Aufnahmen limitieren, um den Sinn einer Vorstudie verständlicher zu machen.
Um nachts mit wenig Licht zu fotografieren, benötigt man lange Belichtungszeiten. Damit ein solches Bild nicht verwackelt, darf sich weder die Kamera noch das Motiv bewegen. Die Bewegung der Kamera bekommt man mit einem Stativ unter Kontrolle. Die Bewegung des Motivs hat man nicht unter Kontrolle, man muss warten. Bei Digitalkameras entsteht bei längeren Belichtungszeiten in dunklen Bereichen ein Bildrauschen. Fotografiere ich das identische Motiv mehrfach, kann ich am Computer aus diesen Aufnahmen eine einzige machen, in der das Rauschen verschwindet.

Einzelaufnahme Belichtungszeit 25 sek. 7 zusammengeführte Aufnahmen Belichtungszeit je 25 sek.
Ein weiterer Aspekt besteht in den Unterschieden von Licht und Schatten. Wenn ich innerhalb dunklerer Bereiche mehr sehen möchte, muss ich die Belichtungszeit verlängern. Dies führt jedoch dazu, dass helle Bereiche überbelichtet werden. Verkürze ich die Belichtungszeit, kann man die hellen Bereiche gut erkennen, aber die dunklen nicht. Überbelichtete Bereiche können nicht wieder sichtbar gemacht werden. Macht man nun mehrere Aufnahmen mit jeweils kürzerer Belichtungszeit (Belichtungsreihe), kann man daraus ein Bild machen, in dem die dunklen und die hellen Bereiche zu erkennen sind.

In der Tankstelle sind keine Details zu erkennen, überbelichtet. Tankstelle ist zu erkennen, Umgebung sehr Dunkel.
Ein wesentliches Gestaltungsmittel für Fotografien ist die Brennweite des benutzten Objektivs der Kamera. Eine kleine Brennweite (Weitwinkelobjektiv) erzeugt einen großen Bildausschnitt, eine große Brennweite (Teleobjektiv) erzeugt einen kleinen Bildausschnitt. Insbesondere dann, wenn ich meinen Standort nicht beliebig wählen kann, unterstützt mich die Brennweite dabei, den gewünschten Bildausschnitt zu finden.

Aufnahmen mit 28 mm Brennweite, mit 300 mm Brennweite
Die Brennweite wirkt sich jedoch auch darauf aus, welche Bereiche einer Aufnahme scharf erscheinen können (Tiefenschärfe). Bei kleinen Brennweiten ist das Bild über seine gesamte räumliche Tiefe scharf, sowohl nahe als auch ferne Bereiche. Bei größeren Brennweiten, je nachdem, auf welchen Bereich der Aufnahme man fokussiert, sind nur Bildelemente eines bestimmten Entfernungsbereiches scharf zu sehen. Je näher sich die Bildelemente, auf die fokussiert wird, zur Kamera befinden, desto kleiner wird der als scharf zu erkennende Bildbereich. Möchte ich nun Bilder erstellen, die über ihren gesamten Tiefenbereich scharf sind, sind widerstreitende, technische Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen. So, wie man Belichtungsreihen in einem Bildbearbeitungsprogramm zu einem Bild zusammenfügen kann, kann man auch Bilder desselben Motivs, die auf unterschiedliche Bildbereiche fokussiert sind, zu einem Bild zusammenfügen. Dabei werden aus jeder einzelnen Aufnahme die scharfen Bereiche extrahiert.

Auf Scheinwerfer des 2. Autos fokussiert. Auf Scheinwerfer des 3. Autos fokussiert Auf Tempo 30 Schild fokussiert Zusammengefügt